Die erste Hürde, sich in Gesellschaft zu begeben ist ein kritischer Blick auf das Kinn.
Oder: Der Weg zum Supermarkt beginnt im Gesicht.
Vor dem Aufbruch: ein prüfender Blick in den Spiegel. Alles ok. Aber so einfach lasse ich mich nicht täuschen.
Brille auf. Vergrößerungsspiegel der nackten Wahrheit. 12-fach Zoom.
Und da: Mein Kinn sieht aus, als ob daran Baumflechten und Eiszapfen im Wechsel hängen. Jetzt mal ehrlich.
Alter hat nichts Schönes. Gar nichts. (Sehen wir mal von inneren Werten wie Erfahrung, Würde und Gelassenheit ab – aber leider
kann ich mich nicht krempeln, bevor ich das Haus verlasse.)
Dieses Kinn passt eindeutig eher in ein Botaniker-Journal als in den Kosmetikspiegel.
Ich stelle eine fachlich fundierte Diagnose: Akutes Regenrinnenkinn mit jahreszeitlich schwankender Flora.
Mögliche Therapie: Das Gestrüpp ausreißen.
Rasur? Kommt nicht infrage. Bei meinen schwarzen Baumstämmen in Barthaaroptik sieht das Ergebnis sonst aus,
als wäre ich mit dem Kinn auf einem Mohnbrötchen eingeschlafen – und hätte die Hälfte der Körner als Souvenir behalten.
Da hilft nur radikales Ausreißen. Am besten mit einer Rohrzange.
Pinzetten geben zu früh auf. Da lacht jeder einzelne der schwarzen Pfeiler aus der Tiefe nur drüber.
Also lege ich los. Mit einer Mischung aus Epilationswut, Trotz und leiser philosophischer Verzweiflung.
Ich schwanke zwischen „Zen und die Kunst der Haarentfernung“ und einem inneren Schrei nach einer Betäubungsspritze.
Zwischendurch frage ich mich, ob das die Emanzipation ist, von der alle reden:
Wenn man irgendwann stolz sagen kann, „Ich habe meine Kinnlandschaft selbst gepflegt.“
Nach 10 Minuten ist die Flora entfernt, die Supermarkttauglichkeit wiederhergestellt,
und mein Selbstwert läuft wenigstens wieder auf halbem Akku.
Ich schnappe mir den Einkaufszettel – Obst, Hafermilch, Pasta – natürlich „al Bronzo“ (spirituelle Nahrung)
– und trete in die Welt hinaus. Kopf hoch. Kinn renoviert. Bereit für die Montagsangebote.
Warum ich das geschrieben habe?
Weil niemand über „innere Werte“ spricht, wenn man an der Kasse steht und aussieht wie ein Moosbiotop mit Bonuskörnern.
Und weil Selbstakzeptanz manchmal bei der Pinzette anfängt.

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