Oder: Wenn ein 19-Monate alter Mensch mich in den Warp zieht
Ich bin ja jetzt Oma. Okay – „jetzt“ ist übertrieben. Die kleine Süßkartoffel ist inzwischen 19 Monate alt. Aber seit dieses Menschenkind in unser Universum gefallen ist, feuert er zuverlässig den Familienhumor an wie ein übermotivierter Phaser.
Und obwohl ich nicht der Typ für „Och wie süüüüß“ bin – schon gar nicht bei Mini-Ausgaben der Spezies Mensch – muss ich zugeben: Der Junge hat… etwas.
Es beginnt schon beim Zweitnamen. „Tiberius.“
Man könnte jetzt würdevoll nicken: „Ahhh, nach dem römischen Kaiser…“
Mitnichten. Dieser Junge wurde nach James Tiberius Kirk benannt – seines Zeichens Captain des legendären Raumschiffes Enterprise. Ja, das aus der uralten TV-Serie.
Und ganz ehrlich?
Nomen est Omen funktioniert bei diesem Kind wie Schwerkraft.
Er lebt es.
Klingonisches Frühstück, 06:30 Uhr
Er war noch in einem Alter, in dem Sprache überwiegend aus so etwas wie gurgelnden Nebelschwaden bestand.
Wir, mein Sohn und ich, höflich wie Föderationsmitglieder nun mal sind:
„Na? Was möchtest du essen?“
Er schaut uns an – ernst. Kommandantenblick. Und sagt glasklar: „Gagh.“
Mein Sohn und ich: Blickwechsel. Stille. Nicken.
Wir haben verstanden. Klingonische Blutwürmer. Natürlich. Was sonst?
Mangels passender Würmer gab es dann doch Haferbrei.
Aber wir waren stolz. Wir sahen Zukunft.
Wir sahen die Uniform. Gold-gelb natürlich. Administrative Aufgaben.
Der Captain kommandiert ja bereits perfekt.
Und bevor jemand jetzt nervös reinwinkt:
„Aber der Captain trägt doch rot?“ Nein.
Das ist Next Generation. Das ist Picard.
Und von diesem Farbanarchismus möchten wir uns gern distanzieren.
Danke. (Höchstens Data darf bleiben – der Rest ist aber trotzdem echt ok.)
Sein erstes Metal-Konzert. Ohne Ticket. Ohne Wissen.
Nach dem Frühstück dann ein fröhliches: „Dei dei dei!“
Klingt harmlos, oder? Wir hören genauer hin.
Und stellen fest: Das ist eine Drohung.
Wir kennen diese Intonation.
Von Metallica. „Die, die, die my darling…“
Ernsthaft. 19 Monate alt.
Und already mit musikalischem Mordauftrag.
Mein Sohn und ich sind stolz. Und ein kleines bisschen verängstigt.
Wortökonomie eines Captains
Er spricht mittlerweile. Also… irgendwie.
Alles mit drei Silben wird gnadenlos zusammengekürzt:
Tomate → Mate
Inhalator → Hali
Getränke teilt er in drei streng regulierte Kategorien ein:
1.Tee: Alles, was Geschmack hat. Auch Apfelschorle. Und vermutlich auch Motoröl.
2.Kaffee: Alles Milchige. Obwohl er noch niemals welchen getrunken hat. (Das habe ich ihm erklärt. Er hat mich angebrummt. Gespräch beendet.)
3.Wasser: Der Rest. Wirklich der komplette Rest. Muttermilch: auch Wasser. Natürlich. Er hat sie ja noch nie gesehen – er wird direkt betankt.
Der Stillplatz – seine Kommandobrücke
Will er gestillt werden, passiert Folgendes: Er räumt den Stillplatz auf der Couch frei. Akribisch. Wie ein kleiner Innenarchitekt mit Zwangsstörung. Er setzt sich hin. Er klopft neben sich energisch auf die Couch. Und sagt im Brustton der absoluten Überzeugung: „Mama.“
Was übersetzt bedeutet: „Buffet eröffnen. Jetzt. Keine Widerworte.“
Ganz der Captain. Verhandeln? Niemals.
Er ruft, du kommst. Protokoll Ende.
„Oma Hand“ – oder: Wie man mit zwei sehr kurzen Wörtern einen Menschen steuert
Er streckt mir seine Hand entgegen. Mit dem süßesten Lächeln der Milchstraße. Ein Moment zum Dahinschmelzen.
ABER. Wenn ich nicht innerhalb einer genormten Millisekunde antworte…
„Haaahaaand. HAAAND!“
Ich habe Soldaten in Filmen gesehen, die weniger Entschlusskraft hatten.
Die Sache mit Mimi
Er nennt die andere Oma schon immer „Mimi“. Sie wohnt eine Etage über ihm.
Wenn man sagt: „Willst du zu Mimi?“ Er packt. SOFORT.
Als stünde ein Shuttle vor der Tür. Für den Moment geduldig, ja. Aber bitte keine Verzögerung. Denn wenn du es wagst, zu sagen: „Warte kurz, ich muss nur noch…“
Dann steht er vor dir.
Packt dich an den Schultern. Zieht dich runter, Stirn an Stirn.
Schaut dich an wie ein Offizier, der dem Fähnrich gleich erklärt, wie Leben funktioniert.
Und sagt: „MIMI.“ Ein einziges Wort – aber es schmilzt dir sämtliche Synapsen weg.
Jeder Gedanke an „ich muss noch schnell…“ verdorrt im Keim.
– wird zu Asche.
– verweht im universellen Nichts.
Teil des Körpers, der nicht „Mimi“ heißen sollte
Neuerdings benennt er Körperteile. Kopf, Füße (die liebt er – von mir hat er das NICHT), Augen, Nase… alles völlig im Rahmen der Entwicklung.
Bis neulich. Da kam ein neuer Begriff dazu: Er nennt seinen Penis „Mimi“.
Ich stand da. Mit zwei Situationen gleichzeitig in meinem Kopf:
1. Die echte Mimi (Oma Nr. 1), die oben wohnt.
2. Sein Gesicht, völlig stolz, als hätte er gerade den geheimen Namen Excaliburs enthüllt.
Und ich wusste nicht, ob ich:
– lachen,
– würgen,
– exorzieren
– oder mich unter der Couch verstecken soll.
Zwei Dinge sind sofort passiert:
1. Ich wusste spontan nicht, ob ich Mimi das jemals erzählen darf. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich nie. Wahrscheinlich werde ich es aber doch tun, weil ich das moralische Rückgrat einer nassen Serviette habe. Und noch wahrscheinlicher weiß sie es längst. Sie ist ja näher an diesem kleinen Epizentrum mit General-Allüren dran.
2. Es hat in meinem Hinterkopf gebrannt. So ein unangenehmes „Oh mein Gott, bitte nicht diese neuronale Verbindung, bitte nicht“-Gefühl. Denn seine Assoziationsketten sind… wild, chaotisch und verstörend.
Die Sache mit dem „HüHüpf“
Nachsprechen ist aktuell optional.
Vielleicht, weil er’s noch lernt. Vielleicht, weil er einfach schon zu cool dafür ist.
Mein Sohn hüpft mit ihm auf dem Arm durchs Wohnzimmer – also wirklich hüpft, wie ein leicht verwirrter Elch auf einem Gymnastikball – und ruft bei jedem Sprung begeistert: „HüHüpf!“ (Dass mein Sohn dieses Wort kennt, lässt mich an früheren Erziehungsentscheidungen zweifeln.)
Nach der Landung steht der Kleine wieder selbstständig – blickt seinen Vater an, zieht ein Gesicht, als müsse er dem Föderationsrat erklären, dass das hier nicht seine Art von Professionalität ist.
Er wird aufgefordert: „Sag mal HüHüpf!“
Er schaut streng, verdichtet alle Energie in seinem kleinen Körper, atmet die Luft der Entschlossenheit ein und sagt dann – mit der Klarheit eines Admirals: „HaBUFF.“
Weniger Ü. Mehr Druck. Mehr Konsequenz.
So nämlich. Kein Hüpfen, nur Buffen. Ein Kind, das keine Wörter nachplappert, sondern überschreibt.
Der Geruchsneurotiker – ein olfaktorisches Hochleistungswesen
Ich weiß, Kinder haben ihre Eigenarten. Jeder hat irgendwas. Aber das hier?
Das ist eine andere Liga.
Mein Enkel riecht an allem. Und nicht einfach: „Oh, mal kurz schnuppern.“
Nein. Es ist eine exzessive, rituelle Inhalation, eine narrative Aufnahme aller Geruchsmoleküle, ein olfaktorischer Deep Dive, wie eine Mischung aus Drogenhund, Gourmet-Sommelier und spirituellem Duftschamane.
Er gibt Dinge auch nicht wieder her, bevor nicht – ja… ich weiß es nicht genau – bevor er sie geleert hat? Geruchstechnisch ausgezogen? Den „Akkord ihres Duftes“ gelöscht hat? Wahrscheinlich. Ich mache mir keine Illusionen.
Der Blumenträger
Draußen? Ich habe diesen Mini-Menschen noch nie ohne Blume in der freien Natur gesehen. Nicht ein einziges Mal.
Er trägt sie wie einen feierlichen Ehrenwimpel.
Stolz. Ernst. Mit Haltung.
Wie ein Zwergen-Botschafter im Garten der Vereinten Nationen.
Zwischendurch hebt er sie an die Nase – immer wieder – um sicherzustellen, dass die Duftsignatur noch korrekt ist, nicht gestohlen wurde, oder ob das Universum zufällig neue Aromen hochgeladen hat.
Wenn er mich gerade besonders lieb hat, darf ich auch mal riechen.
Das ist bei ihm eine Auszeichnung. Ungefähr vergleichbar mit einem Orden.
Der Herbst: ein sensorischer Marathon
Jetzt, im Herbst, war es schwieriger mit den Blumen.
Macht ihm nichts. Denn: Es gibt Blätter.
Tausende. Wenn nicht Millionen.
Und jedes einzelne wird beschnuppert. JEDES.
Als könnte in genau diesem Blatt die Formel zur Erleuchtung verborgen sein.
Andere Kinder sammeln Blätter. Er… kartografiert sie geruchlich.
Es gibt Momente, da hockt er sich hin, wie andere sich meditierend auf einen Berg setzen –und er sieht dabei aus, als würde er gerade über die Sinnhaftigkeit von Schwerkraft verhandeln. Dabei grinst er – das tut er übrigens meistens. Und dieser Blick dazu der 2 Schlüsse zulässt:
„Ich hab ALLES im Griff, Oma. Gib mir fünf Minuten, ich kläre das mit dem Herbst persönlich.“
Oder: „Ich hab gerade was sehr Schlaues vor, aber du bist noch nicht bereit, es zu verstehen.“
Die Geruchslinie
Ich dachte ja, der Kleine wäre einfach nur ein bisschen neugierig.
Ein olfaktorischer Enthusiast. Ein Blumenschnüffler mit Berufung.
Aber dann wird mir klar: Dies ist die dritte Generation eines Geruchs-Imperiums.
Mein Sohn und ich – wir haben das auch. Ausgeprägt.
Wir besitzen eine Riesen Datenbank aus Düften.
Nicht metaphorisch. Wirklich.
Wenn wir etwas riechen, öffnet sich im Kopf kein Ordner – sondern ein ganzer verdammter Raum. Mit Licht, Temperatur, Stimmung, Jahreszeit und Nebengeräuschen.
Mein Sohn? Er hat es wohl geerbt. Noch markanter ausgeprägt als bei mir selbst.
Er kommt rein, schnuppert einmal – und löst damit eine CIA-Level-Geruchsanalyse aus:
„Mutter, hast du Apfelkuchen gebacken?“
Ich: „Äh… ja. Gestern. Danach aber Bratkartoffeln. Und Zwiebeln. Und…“
Er winkt ab, geht zum Tatort Küche, schnuppert nochmal und sagt dann völlig unbeteiligt: „Du hast wieder Kardamom reingemacht. Zusätzlich zum Zimt. Du sollst doch nicht immer so übertreiben.“
Ich rieche selbst: und bekomme – mit Glück – Bratkartoffeln.
Zwiebeln. Fett. Pfeffer.
Und wenn ich mich SEHR konzentriere, einen Hauch Apfelkuchen.
Ganz hinten. Auf den Zehenspitzen meiner Aufmerksamkeit.
Er dagegen riecht durch fünf Schichten Realität, wie eine Mischung aus Trüffelschwein und Aromatherapeut.
Und ich maße mir an zu vermuten: Die Süßkartoffel hat es auch geerbt.
Und zwar lückenlos.
Und es ist wunderschön.
Und ein wenig traurig.
Und irgendwie perfekt.
Warum ich das geschrieben habe?
Weil ich manchmal vergesse, wie magisch der Alltag eigentlich ist.Wie viel Humor, Wahrheit und kleine Erkenntnisse in diesen winzigen Momenten stecken, wenn ein 19 Monate alter Captain mich mit Kommandoton an den Rand des Universums dirigiert.
Weil Familie nicht aus „Heile-Welt“-Postkarten besteht, sondern aus Tomatenflecken, klingonischen Frühstücken und der Frage, warum ein Mensch in dieser Größe so eindeutig „MIMI!“ krähen kann.
Weil dieser kleine Mensch mich immer wieder daran erinnert, dass Wahrnehmung ein Geschenk ist – und dass Intensität nicht nur Chaos bedeutet, sondern Tiefe. Und Verbundenheit. Und Lachen, das von innen kommt.
Weil es genau diese Augenblicke sind, die zeigen, wie wir wirklich sind: ein bisschen schräg, ein bisschen Nerd, viel Herz, ein Schuss Sternenflotte und genug Humor, um uns durchs Leben zu hüpfen – oder zu buffen.
Und vielleicht auch, weil ich es schön fände, wenn dieser kleine Mensch irgendwann liest, wie sehr er die Welt jetzt schon bunter, lauter und lebendiger macht. Ohne dass er es merkt.
Und weil ich selbst nicht vergessen möchte, wie sich das alles angefühlt hat.

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